Das erste Mal im Haus

Ich parke mein Auto in eurer Einfahrt und bleibe noch ein wenig sitzen, um mein Herz zu beruhigen, das so wild klopft.

Ich bin das erste Mal da seit ihr nicht mehr da seid.

Ich sehe euer Haus, das jetzt unser Haus ist.

Aber noch ist es leer, verwaist, so wie wir jetzt verwaist sind.

Es tut weh, die Autotür zu öffnen, das Auto, das einmal dir gehörte.

Der Weg zu eurer Haustür ist mit Erinnerungen gepflastert.

Wie oft bin ich diesen Weg gegangen, jeder von uns – wie oft in Eile, mit Freude, mit Einkaufslisten im Kopf, mit Sorgen im Herzen.

Ich schließe die Haustür auf.

 

Mein Herz pocht so.

 

Drinnen wartet abgestandene Kühle, ein schwacher Geruch nach Krankheit.

 

Deine Schuhe stehen dort.

 

Mein Herz, mein Herz.

 

Meine Augen füllen sich mit Tränen.

Es tut so weh.

Ich dachte nicht, dass ich den Schmerz wirklich körperlich fühlen kann.

Mein Herz zieht sich zusammen.

 

Vorbei an der Garderobe, wo Jacken hängen, die du nie mehr tragen wirst.

Immer viel zu groß, als wolltest du deine Zartheit verbergen.

 

Du fehlst mir so.

 

Oh Gott, es tut so weh.

 

Ich gehe weiter durch die Diele in die Küche.

Ein Hauch von Lebendigkeit:

Erinnerungen ziehen wie Schwaden an mir vorbei.

Unser Einzug hier. Am ersten Tag gleich beim Fangenspielen das Glasfenster in der Küchentür kaputt gehauen.

Sehe dich am Herd, wie du den Kopf wendest und mich anschaust.

Schaust du mich JETZT gerade an?

Schaust du in mein Herz?

Das sich zusammenzieht, kontraktiert, wie um den Schmerz auszustoßen, um nicht daran zerbrechen zu müssen.

In eurem Schlafzimmer gehe ich zu eurem Schrank. Du hast ihre Sachen nie weggegeben.

Du hast gesagt, du machst es, hast es aber nie gemacht.

Ich lasse mich fast in ihre Sachen fallen.

Atme ihre Kleider ein.

Bade in ihrem Geruch.

 

Jetzt gibt es keinen Unterschied mehr:

Ich BIN Schmerz.

 

Es gibt keine Zeit mehr, es gibt nichts mehr da draußen.

Nur noch mich und sie und ihren Geruch und den Schmerz.

 

Irgendwann löse ich mein Gesicht und meine Hände, die sich in ihre Röcke gekrallt haben. Lege mich auf ihr Bett.

Leer.

Zeit spielt keine Rolle mehr.

Erinnerungen kommen und gehen und ziehen vorbei, Stimmen, Lachen, Töne. Schall und Rauch. Leere.

 

Was ist es, was Leben ausmacht?

Irgendwann – als ich wieder meinen Körper spüre, die Matratze unter mir und ich bewusst werde, dass ich friere – stehe ich auf.

 

Ich öffne die Fenstertüren zu eurem Garten und gehe raus.

 

Die Augen in meinem rot-blass geweinten Gesicht müssen blinzeln.

Ich hatte vergessen, wie intensiv die Februarsonne schon sein kann.

Fast zu intensiv, der Duft nach Natur, Moos.

 

Leben.

 

Was ist es, was Leben ausmacht?

Durch den Frühjahrsboden spitzen erste Krokusse.

Ich gehe in die Hocke, um sie genauer zu betrachten.

„Hörst du“, flüstern sie mir zu „das ist es, was Leben ausmacht.

Der ewige Kreislauf vom Werden und Vergehen, von Geburt und Sterben.

So, wie wir im Winter tot zu sein scheinen, weil alles, was an der Oberfläche von uns sichtbar war, verdorrt ist, abstarb und verschwand. So kommen wir im Frühjahr wieder – denn unsere Essenz, das, was fürs Auge unsichtbar unter der Oberfläche schlummerte, sich ausruhte und sammelte-

Weil diese Essenz nicht gestorben ist.

Und wird sie doch einmal gehen, wird sie übergehen in ein Neues, in ein uraltes Gewebe, eintauchen und wieder geboren werden.

 

Und du dachtest, dass etwas verloren geht?

 

Nichts geht verloren.

Niemand geht verloren.

 

Nur das Sichtbare schwindet, zieht sich zurück, um an anderer Stelle zu einer anderen Zeit wieder aufzutauchen.

 

DAS bedeutet der Tod.

 

DAS ist Leben.“

 

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