10 Dinge, die sich seit und durch den Tod meiner Eltern in meinem Leben verbessert haben

Ich möchte dir heute Mut machen. Vielleicht bist du gerade in tiefster Trauer – vielleicht liegt dein Verlust schon länger zurück? Vielleicht stehst du kurz davor. Egal, wo du gerade stehst, ich möchte dir sagen: Dein Leben kann wieder gut werden.

Vielleicht werden manche Dinge sogar noch besser als je zuvor. Ich erzähle dir jetzt, welche Dinge sich seit –  ja, und manchmal auch durch den Tod meiner Eltern in meinem Leben zum Guten gewendet haben.

Was wurde besser seit und
durch den Tod meiner Eltern?

Ja, das klingt erstmal paradox. Aber ich meine es so: Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich endlich ganz viel Zeit mit meinen Eltern. Es fühlte sich so an, als wären sie ständig bei mir: In meinen Träumen, wenn ich Musik hörte und an sie dachte. Wenn ich meine Texte schrieb, war es, als würden wir miteinander sprechen. Es war eine ruhige Art der Anwesenheit.

Vorher war da so viel Druck gewesen. Überforderung, Zeitmangel, Gegebenheiten und Zustände, die sich ständig durch den Krankheitsverlauf änderten, soviel Stress. Nun war alles ruhig und wir hatten plötzlich alle Zeit der Welt miteinander. Jetzt, wo der Wettlauf gegen die Zeit verloren war, hatten wir plötzlich alle Zeit der Welt.

Meine Eltern waren intelligente und kompetente Menschen. Da war es leicht und bequem, in vielen Bereichen die Verantwortung an sie abzugeben. Vom Reifenwechseln über medizinische Anliegen bis hin zu steuerlichen Fragen: Ein Anruf genügte und mir wurde geholfen.

Das fand mit dem Tod meiner Eltern logischerweise sein Ende. Ich musste lernen, mich selbst über alles zu informieren, in allen Bereichen selbst eine Entscheidung zu treffen, alleine die Dinge zu veranlassen. Es fühlte sich so an, als würde ich durch den Tod meiner Eltern nochmal erwachsener. Irgendwie war ich vorher, solange ich das Kind von jemandem war, ein Stück weit auch noch Kind.

Als meine Eltern noch lebten, war unser Elternhaus das Zentrum der Familie, Zentrum von Traditionen, Strukturen und Ritualen, die die beiden geschaffen hatten. Beide lebten eine klassische Rollenverteilung, beide waren im Angestelltenverhältnis. Ich hatte unbewusst einiges davon übernommen. Mit ihrem Tod entstand ein freier Raum, in dem es mir möglich wurde, zu reflektieren und mich zu fragen: Will ich – wie sie – Weihnachten verbringen, abends immer fernsehen, samstags immer einkaufen fahren, wie sie arbeiten?

Welches Leben entspricht wirklich mir? Manches davon entspricht mir, manches nicht. Die Reise zum eigenen Ich ist spannend, bereichernd und aufregend: Es überrascht mich selbst immer wieder, wo ich andere Wege als meine Eltern gehe – und an welchen Stellen ich zu dem zurückkehre, was sie vorgelebt haben.

Lange Zeit hatte ich ein ausgeprägtes Helfersyndrom. Ich studierte etwas Soziales, engagierte mich ehrenamtlich und hatte für die Sorgen meiner Mitmenschen stets ein offenes Ohr. Als meine Eltern erkrankten, entgrenzte ich mich total: Ich war ständig für sie erreichbar, immer verfügbar. Mir kam es überhaupt nicht in den Sinn, ihnen Grenzen zu setzen. Das kam daher, weil ich Grenzensetzen verband mit Egoismus, Härte und Abschottung – und auch davon, weil ich meine Grenzen selbst nicht gut wahrnehmen konnte.

So ging ich also so dermaßen über meine Grenzen, dass mein Körper und meine Seele mir immer mehr körperliche Signale und Symptome schickten. Ich spürte, wenn ich nicht selbst ernsthafter krank werden will, muss ich etwas ändern. Ich empfinde diesen Prozess, in dem ich lerne, auf meine Bedürfnisse und Grenzen zu achten, als einen, der mein Leben gesund formt. Der immer mehr herausschält, was ich brauche und wer ich wirklich bin.

Den Tod geliebter Menschen so nah zu erleben, hat etwas ganz Tiefgreifendes mit mir gemacht. Ich hatte in der Zeit des Sterbens meiner Eltern immer dieses Bild im Kopf: Einen Dornenwald, durch den ich gehe. Heute sehe ich, dieser dornige Weg hat nicht nur Narben hinterlassen, sondern auch Geschenke, die ich damals so noch nicht wahrnehmen konnte: Tiefe Erlebnisse und Erkenntnisse, die mit Worten manchmal kaum erfassbar sind. Mein Herz veränderte sich. Es fühlte sich so an, als würden all diese Schmerzen und Tränen harte Schichten um mein Herz aufbrechen und aufweichen. Heute bin ich offener, weicher und mitfühlender anderen und mir selbst gegenüber als je zuvor.

Ich habe meine Eltern geliebt. Und trotzdem war es nicht immer einfach zwischen uns. In ihren letzten Lebens- und Krankheitsjahren wurde das Band zwischen uns so eng, dass es mich immer weiter einschnürte. Mit Ihrem Tod wurde dieses Band gesprengt – und damit meine ich nicht die Verbindung des Herzens.

Es war eine Befreiung. Es tat unglaublich weh und gleichzeitig war ich plötzlich frei. Frei vom ständig-sich-Sorgen-um-jemanden-machen. Frei vom ständig-erreichbar-sein. Frei von der Überlastung. Frei, wieder durchzuatmen. Frei, mich wieder meinem Leben zuzuwenden.

Es gab einmal einen Augenblick, als meine Mutter noch nicht lange schwer erkrankt war, an dem ich den Gedanken zuließ, dass sie bald sterben könnte. Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen und ich würde in ein schwarzes Loch fallen. Bodenlose Angst. Ich konnte diese Vorstellung nicht länger zulassen, die Angst war zu schlimm.

Als sie dann starb, war es anders. Es war nicht so, wie die Angst es gezeichnet hatte. Ja, es tat höllisch weh – aber es war kein schwarzes Loch, das mich ganz und gar verschlang. Ich konnte es meistern.

In dieser und der darauffolgenden Zeit habe ich einiges über die Angst gelernt: Sie wirft Bilder an die Wand, die so nicht eintreffen werden. Je mehr ich vor ihr wegrenne, desto größer wird sie. Je mehr ich mit ihr bin, desto kleiner wird sie. Angst ist also etwas Veränderliches. Etwas, mit dem ich arbeiten kann. Etwas, das ich meistern kann. Je mehr ich lernte, mit meiner Angst zu arbeiten, umso mehr war es, als würde ich immer mehr auftauen und wieder lebendiger. Mein Leben kam wieder mehr in Fluss.

Ich habe oft erlebt, dass Menschen den Tod bis zuletzt verdrängen, selbst bei sterbenden Angehörigen noch. Was passiert, wenn wir den Tod zulassen? Fallen wir ins Nichts, wenn wir loslassen?

Mir kommt es vor, als würde mich der Tod einladen, hinzuschauen, was wirklich bleibt, wenn wir loslassen. Es bleibt so viel. Wertvolle Erinnerungen, unsere gemeinsame Geschichte. Und die Essenz unserer Verbindung, vollkommen unberührt von dem, was passiert. Durch den Tod lerne ich immer mehr, was in meinem Leben wirklich von Bestand ist – und was ich loslassen darf. Mein Leben ist dadurch konzentrierter geworden, konzentrierter und reduzierter aufs Wesentliche. Ich verschwende weniger Zeit und fokussiere mich mehr auf das, was wirklich für mich zählt.

Leider finde ich das Zitat nicht mehr, ich glaube, es war von Jean Améry – und es ging sinngemäß so:

„Wir alle wissen, dass wir sterben müssen. Aber wir glauben es nicht.“

Ein Teil von mir findet es immer noch irgendwie ungeheuerlich, dass ich sterben werde. Ein anderer Teil hat spätestens durch den Tod meiner Eltern begriffen: Mein Leben hier auf der Erde ist endlich. Es kann bald vorbei sein – oder noch lange dauern – ich weiß es nicht. Auf jeden Fall habe ich hier nur begrenzt Zeit. Mir wurde bewusst, dass meine Zeit wertvoll ist und dass ich keine Zeit mehr habe, meine Träume aufzuschieben. Mich von diffusen Ängsten aufhalten zu lassen. Mich mit Dingen, Themen oder Menschen zu umgeben, die mir nicht gut tun. Offene Rechnungen zu haben. 

Meine Endlichkeit wurde zu meinem Kompass. Immer, wenn ich unsicher bin, ob ich z.B. dieses oder jenes wirklich tun soll, frage ich mich: Wie würde ich von meinem Sterbebett aus auf diese Situation schauen? Würde es aus dieser Perspektive wirklich zählen oder einen Unterschied machen? Mein Kompass nordet mich immer wieder ein und sorgt so für eine klare, ehrliche Ausrichtung meines Lebens.

Als ich in seinen letzten Lebensstunden bei meinem Vater am Bett saß und ihn betrachtete, wurde es mir bewusst: Ich hatte das Leben mit ihm als selbstverständlich genommen. Und jetzt, da jeder seiner Atemzüge sein letzter sein konnte, war jede Sekunde mit ihm unbezahlbar. Unendlich wertvoll. Es gab keine Vergangenheit mehr, keine Zukunft, nur das Jetzt.

Mir wurde bewusst, dass das Leben ein Geschenk ist. Jeder Augenblick ist ein Geschenk. Es durchflutete mich eine große Dankbarkeit, die bis heute (auch wenn sie manchmal im Hintergrund läuft) da ist. Ich bin unglaublich dankbar, zu leben.

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